Flucht

Wenn dir alles über den Kopf wächst, musst du raus, einfach weg, unerreichbar sein. Weg von den schrecklichen Umarmungen deiner Mutter, weg von dem "es ist doch was, sag doch" und weg von der drückenden Leere und der Langeweile, die dich in den eigenen vier Wänden umgibt und in der du schwimmst, wie ein Fisch im Senfglas. Eingeengt; du hast nicht genügend Bewegungsfreiheit, um deinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Du musst raus, weg, am besten ganz weit weg, wohin dir keiner folgen kann.

Du nimmst dir dein Fahrrad und fährst einfach weg, einen einsamen, geteerten Weg entlang. Der Wind ist eisig und kalt, hättest du dir doch nur eine Jacke angezogen, oder wenigstens eine Mütze aufgesetzt. Die Haare hast du zum ersten Mal seit Monaten hochgesteckt; du weißt auch nicht, wieso. Der eisige Wind peitscht dir ins Gesicht, du kommst kaum voran, so stark ist er. 
Aber du bist verbissen und lässt dich nicht aufhalten. Verzweifelt versuchst du, deinem Ziel näher zu kommen. Dem Ziel, alles zu vergessen und hinter dir zu lassen und dem Ziel, dich zu verändern. Seit gestern bist du wie besessen von der Idee, dich selbst zu zerstören. Und dich somit zu einem besseren Menschen zu machen. 
Der Wind lässt dich eisige Tränen weinen. Ja, es wird wohl der Wind sein, der dir das Wasser in die Augen treibt. Verärgert wischst du sie weg, würdest du nur nicht so schnell durch die Gegend rasen, um alles zu vergessen. 
Du bist außer Atem, doch musst du noch schneller fahren, sonst holt dich alles ein. Der Wind lässt dich kämpfen, fast aufgeben, aber du siehst dein Ziel so nah wie noch nie vor dir. Es ist zum Greifen nah, du musst es so schnell wie möglich erreichen. Und dieses Mal wirst du es schaffen. Du musst einfach. 


Der Neuanfang ist nah. Eigentlich hat heute eine neue Ära begonnen. Nicht für alle, sondern nur für dich. Für dich allein, in deinem Senfglas, das dir einen kleinen Ausblick gewährt, nicht mehr. Dort bist du sicher vor Verletzungen, aber kannst du von dort aus auch kaum eine emotionale Bindung zur Außenwelt herstellen. Was aber wohl besser ist; nicht umsonst bist du in deinem eigenen Senfglas gefangen, ohne Kontakt zur Außenwelt. Wenn sich jemand zu dir in dein Senfglas quetschen würde, hättet ihr nicht mehr genug Platz zum Atmen. Man könnte höchstens sein Senfglas neben deines stellen, damit ihr euch still bewundern könnt. 

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